Abstimmung zur großen Koalition - Ja oder Nein?!
Es ist die wohl drängendste Frage der letzten Tage und womöglich meine schwierigste Entscheidung als SPD-Mitglied seit Eintritt in die Partei Ende 2006:
Große Koalition, ja oder nein?
Grundlage hierfür dient der Koalitionsvertrag, der allen SPD-Mitgliedern vergangene Woche in einer Sonderausgabe der VORWÄRTS zugegangen ist.
Bevor man als Genosse oder Genossin jedoch mit der Bewertung des Vertrages beginnt, sollte man sich einer (traurigen) Wahrheit stellen: Die SPD hat die Bundestagswahl unbestritten und mit deutlichem Abstand zur CDU verloren! Das sollte man nicht schönreden. Mit 25,7 % und fast 16 % Unterschied zur Union müssen wir die Niederlage eingestehen, alles andere ist Realitätsverleugnung. Wenn wir uns das bewusst machen, ist die Erwartungshaltung bezüglich des Koalitionsvertrages zunächst einmal wieder auf das Normalmaß gestutzt. Ein 100%iges SPD-Programm hätte es nicht mal in einer rot-grünen Koalition gegeben, auch wenn hier die thematischen Schnittmengen erkennbar größer sind.
Die (positiven) Kernthemen des Vertrages sind hinlänglich bekannt: Mindestlohn, Rente mit 63, Doppelpass für junge Menschen, Mütterrente, Frauenquote, Mietpreisbremse sowie 4 Mrd. € mehr für Pflege etc.. Das klingt erstmal positiv und zustimmungswürdig. Aber auch PKW-Maut, Vorratsdatenspeicherung, fehlende Steuerreform oder die fehlende Bürgerversicherung sind Teil bzw. nicht Teil des Vertrages.
Was überwiegt also?
Mit diesem Koalitionsvertrag wird es erstmals einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro geben. Dieser wird grundsätzlich 2015 kommen, aber erst 2017 auch für Tarifverträge gelten. Das klingt vielleicht zunächst nach einer Mogelpackung, ist aber von der Idee her sehr klug. Viele Wirschaftsbereiche, insbesondere im Osten im Deutschlands, besitzen keine Tarifverträge. Durch diese Regelung könnte der Reiz, ein repräsentativen Tarifvertrag zu vereinbaren, der den Mindestlohn so bis 2017 "verschiebt", deutlich steigen. Letztendlich werden über 6 Millionen Menschen davon profitieren, endlich einen fairen Stundenlohn von 8,50 Euro zu bekommen. Diesen Erfolg für viele Menschen sollte sich jeder Genosse und jede Genossin einmal vor Augen führen.
Darüber hinaus wird es auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die 45 Versicherungsjahre vorweisen können, eine Rente mit 63 Jahren geben. Selbst Kindererziehungs- und Arbeitlosenzeiten werden berücksichtigt. Das heißt, Menschen die mehr als 2/3 ihres Lebens gearbeitet bzw. der Arbeitswelt zur Verfügung gestanden haben, bekommen eine abschlagsfreie Möglichkeit in Rente zu gehen. Bei 45 (!!) Versicherungsjahren ist das mehr als fair!
Was nicht wirklich beachtet wird, ist der starke Fokus auf frauenpolitische Themen: Es wird endlich eine rechtlich verbindliche Frauenquote in Aufsichtsräten sowie eine Angleichung der Mütterrenten geben. Darüber hinaus sollen Frauenhäuser finanziell besser ausgestattet werden. Ebenfalls ein Erfolg!
Ebenso wird etwas für Migranten und Asylbewerber getan. Der Doppelpass beendet den schädlichen Optionszwang, womit zahlreichen jungen Menschen ein Herzenswunsch erfüllt wird. Zudem wird es fortan eine permanente, stichtags-unabhängige Bleiberechtsregelung geben. Das gab es noch nie! Dass Ausländerbehörden nun innerhalb von drei Monaten Asyl-Anträge bearbeiten müssen, tut sein Übriges.
Aber wenn die vielen Erfolge aus welchen Gründen auch immer ("SPD geht unter", "zu wenig Inhalte" etc.) nicht zu überzeugen vermögen, sollte man sich wieder der Realität widmen.
Welche Alternativen gibt es?
Rot-rot-grün:
Wer ernsthaft Rot-Rot-Grün fordert, verkennt den klaren Wortbruch, den die SPD begehen würde und schadet damit nachhaltig der Glaubwürdigkeit unserer Partei. Wir haben im Wahlkampf unmissverständlich versprochen, keine Koalition mit der Linkspartei einzugehen. Dass das womöglich ein Fehler war, ist eine andere Baustelle. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir als SPD eine große Koalition nie ausgeschlossen haben, aber natürlich auch nicht angestrebt haben.
Wer einen Wortbruch in Kauf nimmt, sollte sich die Konsequenzen die der Wortbruch in Hessen verursacht hat, einmal genau anschauen. Die SPD leidet noch heute unter dem so genannten "Ypsilanti-Effekt". Darüber hinaus wäre eine Koalition mit der Linkspartei nicht solide und würde bei der ersten schwierigen Entscheidung auseinanderbrechen. Das ist schlichtweg unseriös.
Schwarz-Grün:
Schwarz-Grün ist ein realistisches Szenario. Aller Voraussicht nach würde es bei einer Ablehnung des Koalitionsvertrages darauf hinauslaufen. Kann das in Anbetracht der sozialdemokratischen Erfolge im Koalitionsvertrag wirklich unser Wille sein? Wollen wir anderen die Möglichkeit geben, Deutschland zu gestalten? Und ich glaube nicht, dass in einem schwarz-grünen Koalitionsvertrag mehr sozialdemokratische Inhalte stehen. Im Gegenteil, ich befürchte, dass dann bestimmte SPD-Themen zugunsten von grünen Themen verschwinden. Wir sollten aber nicht opponieren, sondern eigene Inhalte für die Menschen umsetzen. Das schaffen wir mit diesem Koalitionsvertrag. Dieser Möglichkeit berauben wir uns, wenn wir anderen das Zepter überlassen.
Minderheitsregierung:
Wer ernsthaft eine Minderheitsregierung in Betracht zieht, kennt die CDU wohl nicht gut genug. Eine Minderheitsregierung wird es nicht geben. Das ist absolut unrealistisch, vorher wird es Neuwahlen geben.
Neuwahlen:
Wenn die SPD in Neuwahlen geht, garantiere ich, dass wir noch schlechter abschneiden werden. Die SPD wird im Wahlkampf als scheu und ängstlich wahrgenommen, weil wir uns der Verantwortung gedrückt haben und weil wir dann kein glaubwürdiges Führungspersonal mehr besitzen. Natürlich gibt es auch einige, die sagen, wir hätten uns nicht in die Regierung gerettet, sondern seien uns "treu" geblieben o.ä.. Aber der Großteil der Wählerinnen und Wähler will eine große Koalition (das bestätigen alle Umfragen). Wenn wir also etwas ablehnen, was der Wähler will, warum sollte er uns dafür noch belohnen? Nein, er wird die SPD bestrafen. Darüber hinaus werden wir keinen Spitzenkandidaten haben, der zumindest glaubhaft um die Macht kämpfen kann. Die CDU als konstante, seriöse und solide Volkspartei wird hingegen gestärkt hervorgehen. Am Ende könnten auch noch die FDP oder die AfD in den Bundestag einziehen. Dieser Realität sollte man sich stellen. Wenn es dann erneut auf eine große Koalition hinaus laufen sollte, werden wir aufgrund unseres schlechteren Ergebnisses noch schwächer in die Regierung gehen. Schreckliches Szenario.
Ich werde dem Koalitionsvertrag zustimmen. Mit diesem Vertrag kann die SPD trotz ihres miesen Wahlergebnisses einige wichtige sozialdemokratische Themen umsetzen. Ich glaube, wir haben trotz 17-prozentigen Abstand zur CDU das bestmögliche Ergebnis erreicht. Natürlich gibt es einige Punkte, die auch mir persönlich übel aufstoßen: mit der Vorratsdatenspeicherung wird beispielsweise der Datenschutz mit Füßen getreten.
Dennoch muss man abwägen und das Parteiinteresse zurückstellen. Wir können Millionen Menschen helfen und das trotz einer Wahlniederlage. Nochmal: Es wird endlich einen Mindestlohn, Rente mit 63, Frauenquote und einen Doppepass geben.
Gibt es realistische Alternativen, die den Menschen mehr SPD-Inhalte ermöglichen? Wer das ehrlich beantwortet kommt zum gleichen Ergebnis:
Ich werde dem Koalitionsvertrag zustimmen.